Interview mit Michael Wolffsohn

Michael Wolffsohn, 76, Historiker, Publizist und Buchautor.

Herr Wolffsohn, hätte man in Israel mit einem Angriff der Hamas rechnen müssen – gerade um das symbolträchtige Datum 6. Oktober herum mit Blick auf den Jom-Kippur-Überfall von 1973?

Symbole sind wichtig, aber entscheidend sind die Rahmenbedingungen. Und die waren, die sind immer noch für Israel höchst ungünstig. Selbstverschuldet von der Netanjahu-Koalition. Sie hat das Volk gespalten. Israels Militär ist eine echte Volksarmee, und wer das Volk spaltet, spaltet auch das Militär. Und wer das Militär spaltet, macht es ineffizient. (…)

Momentan überbietet sich der Westen mit Solidaritätsinteressen gegenüber Israel. Wird das so bleiben, wenn im Gazastreifen Häuserkämpfe toben und sich palästinensische Frauen wieder vor den Kameras der Medien postieren oder tote Kinder hochgehalten werden?

Gewiss nicht, so sicher wie das Amen im Gebet. Ähnlich wie bezüglich der Ukraine. Auch hier bröckelt die Solidarität. Menschen sind eben oft alles andere als menschlich. Wenn es unbequem wird, noch weniger als sonst.

Ihre Frage ist im Übrigen nicht einmal hypothetisch, sie wird weltweit durch Äußerungen in Politik und Medien bereits bestätigt. Verinnerlichte, vorurteilsbehaftete Wahrnehmungen wirken eben stärker als die Empörung über jeweils andere Wirklichkeiten.

Unabhängig von der wetterwendischen öffentlichen Meinung in Deutschland und Westeuropa steht die Regierung der USA zuverlässig auf der Seite Israels. Unter Präsident Joe Biden ebenso wie, die US-Wähler mögen es verhüten, Donald Trump. In den USA weiß man besser als in Deutschland, was nationale Interessen sind und bei wem und wo sie besser aufgehoben sind. (…)

Kanzler Scholz sagte, auch Deutschland werde sicherstellen, dass sich Israel verteidigen kann. Braucht Israel deutsche Waffen- oder Technologiehilfe?

Genau genommen macht der Kanzler sich selbst und damit leider auch Deutschland lächerlich. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Israel schützt Deutschland.

Kürzlich kaufte Berlin von Israel einen Raketen-Schutzschirm, und seit Jahren profitiert Deutschland von Israels Hilfe im Kampf gegen und zur Verhinderung von Terror in Deutschland. Und die Bundeswehr pfeift jetzt schon aus dem letzten Loch.(…)

Bei uns leben 5,5 Millionen Muslime, manche haben den Angriff jetzt gefeiert. Das muss man unterbinden – aber reicht das? Wie viel Antisemitismus tragen junge Muslime in deutsche Schulen? Was bedeutet das für den Unterricht, für die Lehrer – etwa beim Thema Holocaust?

Das bedeutet, was wir seit Jahren auf deutschen Straßen erleben. Rufe wie „Juden ins Gas“, „Tod den Juden!“, „Tod Israel“. In Berlin-Neukölln wurde vor wenigen Tagen ein Lehrer von Schülern körperlich misshandelt, weil er es wagte, sie dazu aufzufordern, die Palästina-Flagge einzurollen, die sie auf dem Schulgelände jubelnd herumtrugen. Das Problem bei uns besteht nicht darin, dass es keine Regeln gäbe. Es besteht darin, dass sie nicht durchgesetzt werden. Es fehlt am politischen Willen.

Michael Wolffsohn, 76, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Michael Wolffsohns Großvater mütterlicherseits war der Bamberger Textilgroßhändler Justus Saalheimer. Das Interview führte Alexander Michel, Redakteur des Südkuriers.

2 Gedanken zu “Interview mit Michael Wolffsohn

  1. Die zutreffendsten Sätze sind die beiden letzten: “Das Problem bei uns besteht nicht darin, dass es keine Regeln gäbe. Es besteht darin, dass sie nicht durchgesetzt werden. Es fehlt am politischen Willen.”

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  2. Die Situation ist derart verfahren, dass die Streitparteien sie alleine und als Akteure nicht lösen werden. Das kann nur funktionieren, wenn die tatsächliche Macht ein Dritter (UN?) in die Hand bekommt und keiner von beiden mehr agiert. Beide Parteien müssen einsehen, dass sie nicht nur beide recht haben, sondern auch beide unrecht. Ob das allerdings in die Köpfe religiöser Eiferer ohne breiteren intellektuellen Horizont geht, das ist sehr fraglich, dauert lange und braucht Druck.

    So grausam die aktuellen Geschehnisse, erinnern sie doch an den alten jiddischen Witz:

    Zwei Juden kommen mit einem Streitfall zum Rabbi. Der erste trägt seine Position vor, der Rabbi schaut in seine Talmud-Folianten, dann eröffnet er ihm: „Hast recht.“

    Sodann trägt der zweite seine Sicht der Dinge vor. Wieder schaut der Rabbi im Talmud nach, er sagt auch zum Zweiten: „Hast recht.“

    Die Frau des Rabbis, die das Ganze mit angehört hat, sagt nun zu ihm: „Du kannst doch nicht zu diesem sagen: Hast recht – und dann auch zu jenem sagen: Hast recht. Beide können nicht recht haben!“

    Der Rabbi konsultiert zum dritten Mal den Talmud. Endlich sagt er, zu seiner Frau gewandt: „Und Du hast auch recht.“

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